Cover
Titel
Urkunde und Adel. Ein Beitrag zur Geschichte der Schriftlichkeit im Südosten des Reichs vom 11. bis zum frühen 14. Jahrhundert


Autor(en)
Zehetmayer, Roman
Reihe
Veröffentlichungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 53
Erschienen
Anzahl Seiten
388 S.
Preis
€ 54,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Monika Gussone, Historisches Institut, Rheinisch-Westfälische Technische Hochschule Aachen

Roman Zehetmayer verfolgt in seiner Habilitationsschrift den bislang kaum beachteten Einstellungswandel des nichtfürstlichen Adels einschließlich der Ministerialität zu Urkunden als Mittel der Rechtssicherung vom 11. bis zum beginnenden 14. Jahrhundert im geografischen Bereich der Herzogtümer Österreich und Steiermark, wie diese sich in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts darstellten, sowie im ergänzenden Vergleich dazu im Herzogtum Kärnten. Seine Untersuchung ist – abgesehen von Vorwort und Einleitung, in der er sein Vorhaben detailliert beschreibt – in drei große Abschnitte gegliedert, deren erster sich mit der Einstellung des Adels zur Urkundenform der Notitia und der Art der Durchführung von Rechtsgeschäften bis gegen Ende des 12. Jahrhunderts befasst. Teil zwei betrachtet die zunehmende Akzeptanz der Siegelurkunde durch den Adel von den 1180er-Jahren bis ca. 1230, Teil drei den qualitativen und quantitativen Wandel im adligen Urkundenwesen und in der Schriftlichkeit sowie die Rolle der Notare von ca. 1230 an, als dem Verfasser zufolge beim Einsatz der Siegelurkunde „ein fast schlagartiger Anstieg zu bemerken ist“ (S. 294), bis zum beginnenden 14. Jahrhundert. Denn in diesem Zeitraum „kam es zu grundsätzlichen und größtenteils lange nachwirkenden Änderungen bei der Form und beim Aussehen der Urkunden, bei der Sprache, den Beweismitteln und der Quantität der Urkundenproduktion“ (S. 261). Für Teil zwei und drei wurde schwerpunktmäßig auf Material aus dem Umkreis der Herren von Stubenberg, von Pettau, von Liechtenstein, von Kuenring und der Grafen von Hardegg zurückgegriffen. Der Schlussbetrachtung, in der die Ergebnisse anschaulich zusammengefasst werden, folgen noch ein Verzeichnis der Siglen und Abkürzungen, das umfangreiche Quellen- und Literaturverzeichnis, ein Register zu den im Text behandelten Urkunden, ein kombiniertes Namen- und Sachregister sowie elf Abbildungen.

Ausgangspunkt der Untersuchung des Einstellungswandels nichtfürstlicher Adliger zum Urkundenwesen war „die Beobachtung, dass sich einige auf Initiative des Adels niedergeschriebene oder ihm auf eigenen Wunsch hin ausgehändigte Notitien erhalten haben“ (S. 13) und „dass das Nachdenken über die Einstellung des Adels zum Urkundenwesen gewisse allgemeine Einsichten in dessen Rechtsvorstellungen ermöglichte“ (S. 291).

Zehetmayer interessierte, ob der nichtfürstliche Adel Rechtsgeschäfte häufiger in schriftlicher Form fixiert hat als ihm wegen seines diesbezüglich vorausgesetzten Desinteresses bislang von der Forschung attestiert worden ist. Tatsächlich besaßen Notitien beim Adel (mit Ausnahme weniger Familien und Sibotos IV. von Falkenstein als Sonderfall) keinen hohen Stellenwert und entsprechend wenige befanden sich in seinem Besitz. Der Siegelurkunde gegenüber, die sich auch für repräsentative Zwecke eignete, war der Adel jedoch wesentlich aufgeschlossener.

Auf Grundlage einer systematischen Bestandsaufnahme und Aufarbeitung des Materials – annähernde Ermittlung der Urkundenzahlen auch aus erhaltenen Inventaren, Analyse von Urkunden und Adelssiegeln – sowie Überlegungen zur Überlieferungsquote diskutiert der Verfasser zunächst die sich aus seinem Vorhaben ergebenden grundlegenden Fragen nach der adligen Haltung zu Bildung (etwa Lesefähigkeit) und Schriftlichkeit, nach der Bedeutung von Zeugenbeweis, Eideshilfe, Offenkundigkeit und Zweikampf für die Rechtsprechung oder von Schriftdokumenten für die Sicherung adliger Rechte, aber auch die Hintergründe dieser gewandelten Einstellung des Adels, die Einflüsse und Vorbilder sowie Veränderungen im Rechtsleben, in Denkmustern, in der Bedeutung von Siegeln und im Schriftgebrauch.

Zehetmayer lehnt die meisten Thesen der moderneren Forschung zu den Traditionsnotizen in Bezug auf den nichtfürstlichen Adel nachvollziehbar ab: Notitien als Mittel des Prestiges und der Herrschaftsrepräsentation, ebenso ihre Verwendung in der profanen Memoria oder als Übergabesymbol, insbesondere auch die Ansicht, Klöster hätten als neutrale Aufbewahrungsstellen für Adelsnotitien gedient, ließen sich in seinem Untersuchungsbereich nicht nur nicht feststellen, sondern er konnte dem widersprechende Beobachtungen machen. Notitien sind zudem nicht als Beweismittel bei Gericht nachweisbar, wenn auch eventuell ein Hilfsmittel bei außergerichtlichen Einigungen (im Sinne eines „Rechtsvorteils“, S. 55, Anm. 299) gewesen. Schließlich ließ sich vielfach nachweisen, dass der Adel zugunsten anderer ausgestellte Traditionsnotizen ignorierte.

Den Grund für die geringe Nutzung der Notitia als Instrument der Rechtssicherung sieht Zehetmayer neben der Fähigkeit des Adels, sein Recht mit Waffengewalt durchzusetzen, in der hohen Rechtswirksamkeit mündlicher Verträge mit Zeugenbeweis – in Verbindung mit dem Ersitzungsrecht, das die Anfechtung von Schenkungen zeitlich beschränkte. Nach Ablauf der Ersitzungsfrist lebten im Normalfall noch Zeugen, Beweismittel für die fernere Zukunft wurden selten benötigt. Notitien waren demnach „keine ‚Fremdkörper‘ in der oralen Laienwelt, sondern höchstens nicht besonders hilfreich“ (S. 294).

Schließlich werden Aspekte wie die Relevanz der Volkssprache, die Durchsetzung der einfachen „Nos-Urkunde“, Standardisierungstendenzen im Formular, Vereinfachung äußerer und innerer Merkmale, Sicherungsklauseln, Gewährleistungs- und Verzichtformeln, Bedeutung der Intitulationes für die Herrschaftsrepräsentation und schließlich der Verzicht auf Zeugen sowie die Archivierungspraxis mittels Dorsualregesten als Hinweise auf das Anwachsen von Urkundenbeständen beleuchtet und ergänzend betrachtet, ob sich vermehrter Schriftgebrauch zugleich in der adligen Verwaltung (Verwendung von Urbaren und Rechnungsbüchern) oder im Briefverkehr erkennen lässt.

Ein weiterer Schwerpunkt der Teile zwei und insbesondere drei liegt auf der prosopografischen Erfassung der meist kaum greifbaren Notare im Umkreis des Adels, die zudem selten über längere Zeiträume nachweisbar sind. Notare zog der Adel erst zu Rate, als er aufgrund von Änderungen in den Rechtsvorstellungen erfahrene Ratgeber benötigte. Manche waren zugleich Pfarrer adliger Herrschaftsmittelpunkte, einige in Verwaltung und Wirtschaftsführung tätig, nicht wenige nahmen vermutlich bei ihren Herren eine Vertrauensstellung ein und übten bei der Ausstellung von Urkunden eine „Kontrollfunktion“ aus (S. 288), obwohl sie diese selten selbst schrieben. Doch ist kaum feststellbar, ob bei der Ausgestaltung einer Urkunde die Vorstellungen des Ausstellers, Empfängers oder Notars ausschlaggebend waren.

Bei der konkreten Durchsetzung der Siegelurkunde spielten – dies ist das Ergebnis des Teils drei – herrscherliche Diplome und landesherrliche Urkunden kaum eine Rolle, entscheidend waren die von Klöstern und Stiften nur wenig früher ausgestellten besiegelten Urkunden, die auch als Beweismittel vor Gericht Verwendung fanden. Die ersten Adligen, die wohl auf Bitten der Klöster Urkunden besiegelten, dienten dann rasch anderen, die ihnen nicht nachstehen wollten, als Vorbild. Gerade die Führung eines Siegels sieht Zehetmayer als „eine wichtige Stufe auf dem Weg zur Etablierung der Urkunde beim Adel“ (S. 103). Als Siegelbild dienten zunächst oft antike Gemmen und Reitersiegel, später vor allem Wappensiegel. Anfangs war ein Wechsel des Siegelbildes in den Familien keine Seltenheit.

Der Verfasser ist auf klare Definition und Unterscheidung der Begriffe bedacht (etwa Notitia – zur Verwendung des Begriffs auf S. 13 –, Notar und Schreiber), auch kommt dem Thema die kleinteilige, sehr genaue Beweisführung zugute, die beispielsweise bei der Datierung von Urkunden zu beobachten ist. Teilweise erscheint die Argumentation jedoch unentschlossen (wie S. 121 Anm. 309 oder S. 210 Anm. 336), und ein wenig hypothetisch bleiben die Überlegungen zur Verlustrate in den Adelsarchiven: Zwar ist es grundsätzlich nachvollziehbar, dass von der Zahl der erhaltenen Siegelurkunden Rückschlüsse auch auf die ursprüngliche Zahl der Notitien gezogen werden, doch ist letztendlich nicht zu klären, ob ihnen wirklich bei der Aufbewahrung dauerhaft der gleiche Stellenwert wie den Siegelurkunden zugemessen wurde oder ob man sie nicht doch irgendwann als überflüssig entsorgte und sich die überlieferte Zahl auf diese Weise reduzierte. Schließlich stellt sich die Frage, ob Markwards von Raabs recht geübt scheinende Urkunde (Abb. 1) tatsächlich als Werk eines „Gelegenheitsschreibers“ bezeichnet werden kann (S. 122).

Es bleibt am Ende zwar zu bedauern, dass von den vielen angesprochenen Urkunden, Siegeln und Dorsualregesten nur wenige abgebildet worden sind, zugleich aber auch zu betonen, dass das Werk nicht nur für die Akzeptanz des Urkundenwesens im Untersuchungsraum sehr aufschlussreich ist, sondern ebenfalls für die dortige Adels-, Familien- und Rechtsgeschichte.